Betrachtungen in der Fastenzeit: Pilatus, Teil 3

Kreuzweg in der Pfarrkirche Globasnitz, Kärnten
Aber wir müssen unsere Aufmerksamkeit noch auf ein weiteres Gebiet richten, in dem sich die Menschenfurcht zeigt, dass nämlich viele aus Furcht vor den Menschen Gebote Gottes übertreten und sündigen. Man fürchtet die üble Laune eines Menschen, von dem man abhängig ist, seine Drohungen; er sagt: „Wenn du das nicht tust, wenn du mir nicht zu Willen bist, dann gib acht, dann geht es dir schlecht.“ Und so geht die Menschenfurcht um in der Welt, ein schlimmer, gewalttätiger Presser und Werber zu Sünden aller Art; sie erzwingt Lügen, Verleumdungen, Meineide, Betrug und Unzucht. Manche haben ja eigentlich von sich aus wenig Freude zu der Sünde, die sie tun; aber die elende Menschenfurcht meistert und knechtet sie und macht sie zu willenlosen Sklaven der Laune oder Lüste des Menschen, den sie fürchten. So schwingt die Menschenfurcht ihr Szepter über Tausende; sie entfremdet dem lieben Gott Tausende von Seelen, die Ihn sonst lieben und Ihm dienen würden; sie verdirbt Unzähligen ihr wahres Glück und vergiftet ihr Leben.
Woher kommt es aber, dass die Furcht vor dem Spott oder der Macht eines Menschen im Bekenntnis der Religion oder in der Übung der Tugend so lähmen kann? Es kommt von dem Mangel an lebendigem Glauben! Hätte Pilatus an Christus als den Sohn Gottes geglaubt, er hätte weder die Juden noch den Zorn des Kaisers mehr gefürchtet. Woher kommt das immer mehr überhandnehmende Übel der gemischten Ehen, wobei die Kinder nicht in der katholischen Religion erzogen werden? Wenn ein junger Mann oder ein junges Mädchen in eine gemischte Ehe einwilligt und die Kinder nicht katholisch erziehen läßt, wo fehlt's da eigentlich? Da fehlt der Glaube, da fehlt der Glaube!
Es ist kein lebendiges Gefühl mehr da, welch unschätzbares Gut der katholische Glaube ist im Leben und im Sterben; und deshalb ist man gleichgültig, schwach gegenüber von Zumutungen des andern Teils! Aus falscher Rücksicht, aus zeitlichen Vorteilen opfert man den Glauben seiner künftigen Kinder und auch noch der Kindeskinder und ihrer Nachkommen vielleicht auf Hunderte von Jahren hinein. So kanns dann kommen, dass einst am Gerichtstage Hunderte von Nachkommen dastehen als Ankläger gegen einen solchen Menschen und sagen: „Der ist‘s, der uns um den wahren katholischen Glauben gebracht hat aus Menschenfurcht, aus falscher Rücksicht und Nachgiebigkeit!“ Und so ist auch noch bei vielen anderen Sündenschwacher Glaube die Quelle.
Wenn dagegen in einer Christenseele der Glaube tief gegründet ist, der Glaube an den lebendigen Gott, Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit, Seine Liebe - bei der verfängt weder falsche Rücksicht noch Drohung noch Spott. Dieser Spott erscheint einem wahrhaft gläubigen Menschen so groß, so erhaben, so sehr als der Herr der Heerscharen, dass ihm die Person eines Spötters oder Bedrängers zusammenschrumpft zu einer Zwerggestalt, deren er nicht achtet. Darum nur den heiligen Glauben tief eingesenkt in die Seele, und die Menschenfurcht zieht von dannen!
Und dann noch ein bisschen gesunden Menschenverstand und ruhige Überlegung dazu! Was ist es denn mit den Menschen, die du fürchtest? Was wird's mit ihnen sein in ein paar Jahren oder höchstens ein paar Jahrzehnten? Ihr Spott oder das Zorngefunkel ihrer Augen erlischt am Tage, da sie dahinfahren in die Grube! Die Welt gleicht einer großen Bühne, die voll ist von Rollenträgern: der eine spielt den König, der andere den Vornehmen, der andere den Reichen; die andere Rolle ist Trägerin der Schönheit, Anmut, die so viel beklatscht wird. Aber warte ein paar Jahre und es wird heißen: das Spiel ist aus, ihr Spieler gebt eure Rollen ab; und bleich und arm treten sie ab von der Bühne des Lebens! Warte ein paar Jahre, und du siehst den Sarg des gefürchteten Menschen, wegen dessen du sündigst, an dir vorbeitragen! „Fürchtet nicht der Menschen Schimpf“ sagt darum der Prophet Isaias (51, 7. 8), denn wie ein Kleid wird sie der Wurm fressen, wie die Wolle wird sie die Motte verzehren!“ Ein zerfressenes Kleid, durchlöcherte Wolle, was haben sie zu bedeuten?Doch selbst, wenn ein Mensch uns schaden, ja selbst das Leben nehmen könnte, dürfte man aus Furcht vor ihm sündigen?
Unser Heiland ist anderer Meinung. Nicht die, welche euch loben, sagte der Heiland fürchtet, vielmehr den, der Leib und Seele in die Hölle stürzen kann. „Ja, den fürchtet! Gott hat eine furchtbare Macht über uns, Er kann uns mit allem, was wir sind und haben, mit Leib und Seele ins Elend schicken. Ein Mensch kann uns am Ende auch in Not, Armut, in den Tod stürzen; aber Gott kann in die Hölle stürzen, das ist etwas anderes. Darum fürchtet Ihn, „ja, den fürchtet“! Und wird Er das tun mit denen, die ihn aus Menschenfurcht verleugnen? Er wird es tun. Er hat es feierlich angedroht. Sein eigener Sohn hat‘s angedroht mit den Worten: „Ich sage euch aber, wer Mich vor den Menschen verleugnen wird, den werde auch Ich verleugnen vor Meinem Vater, der im Himmel ist“ (Mt 10,33; Lk. 12,9). Da haben wir mit einem einzigen Wort die schreckliche Zukunft des Menschenfürchtigen! Christus wird ihn verleugnen vor dem Vater. Christus wird ihn nicht kennen wollen (Mt 7,23). Und wenn Er einen nicht kennen will, dann ist alles verloren! Wenn das das Ende der Menschenfurcht ist, dann wollen wir ihr den Abschied geben, lieber heute als morgen!
Also nicht verleugnen, sondern bekennen! Sehet doch, wie unsere heilige Kirche Christus und seine Religion so offen bekennt! Seht, wie sie ihre Gotteshäuser hoch hinaufführt und ein Kreuz hinaufsetzt, damit es weit hinausschaue in das Land und Freund und Feind erkennen, dass das ein Haus ist, in welchem Gott gedient wird! Seht, wie die Kirche durch ihre Glocken offen und vernehmlich vor aller Welt die Feste und Gebetszeiten ausruft, wie sie in den Prozessionen hinauszieht und vor jedermann, sei's gelegen oder ungelegen, ihren Glauben bekennt! Seht, wie sie ihren Priestern eine Kleidung gibt, woran jedermann sie sofort erkennt, die Freunde und die bittersten Feinde, und weiß, wer diese sind und in welches Herrn Dienst sie stehen!
Nun wohlan, auf dieser Seite ist auch dein Platz, dahin hat dich schon die heilige Taufe gestellt! Sei kein Pilatus an Schwäche und Menschenfurcht! Bekenne Christus in deinen irdischen Tagen, und es wird der Tag kommen, an dem er dich bekennen wird vor allen Seinen Engeln! Das wird ein wunderbarer Tag sein. Vor dem Angesicht unzähliger hehrer Geister des Himmels wird er dich bekennen als Seinen wahren Jünger und wird dich einladen, Platz zu nehmen mitten unter ihnen. Trag darum hienieden das bisschen Spott, das bisschen Verfolgung, das dich das Bekenntnis deines Glaubens hin und wieder kosten mag! Das bisschen Mut, das der offene Dienst Christi erfordert, zeige vor den Menschen! Es wird dich wahrlich nicht gereuen! Amen.
Quelle: Fastenpredigten von Paul Stiegele, Domkapitular, 1904