Betrachtungen in der Fastenzeit: Judas, Teil 1

Quelle: Distrikt Österreich

Fastentuch in der Pfarrkirche St. Stephan unter Feuersberg, Kärnten

In der Minoritenkirche haben wir seit dem Vorjahr in der Fastenzeit die schöne Tradition der Fastenpredigten wiederbelebt. Früher strömten die Menschen zu den Fastenpredigten und die Kirchenbänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt, schließlich soll sich jeder Katholik gerade in der Fastenzeit mehr als sonst mit seinem Glauben auseinandersetzen und das Leiden Christi betrachten. Auch sollen wir uns mit unseren Sünden und Schwächen im eigenen Leben auseinandersetzen und über deren Folgen. Es gab berühmte Fastenprediger, deren Homilien auch als Bücher herausgegeben wurde. Aus einem dieser Bücher nehmen wir unsere Betrachtungstexte für die Fastenzeit 2025: Wir bringen insgesamt sechs Fastenpredigten (jeweils auf drei Tage aufgeteilt, denn die Fastenpredigten waren länger als normale Predigten), die sich mit einzelnen Personen aus der Leidensgeschichte auseinandersetzen. Die erste dieser Personen ist Judas.  

So ist sie wieder gekommen, die ernste, heilige Fastenzeit, und wieder ist an euch die Einladung ergangen, eure Schritte zum Gotteshause zu lenken. Äußerlich war es die Glocke, die euch gerufen, und innerlich ist es die Stimme der göttlichen Gnade gewesen, und diese Stimme sagt euch, dass nun wieder eine Zeit gekommen ist, wo ihr euer Haupt aus der Flut der irdischen Gedanken in die Höhe heben sollt, Tage, wo die großen Wahrheiten vom Jenseits heller aufflammen sollen in unserer Seele, wo manch ein Blitz von der Ewigkeit her durch ein weltversunkenes Herz zuckt, manch ein Donner von oben her durch eine schläfrige Seele hallen soll. Und wer weiß nicht, Geliebte, dass es insbesondere die Zeit ist, wo man Auge und Herz dem hochheiligen Gegenstande zuwenden soll, der gleichsam immer vor der Menschheit steht, den keine Zeitereignisse auswischen können aus dem Gedächtnisse der Menschen: ich meine das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus. Zu dem Kreuz also, das einsam dort oben steht auf dem Felsen von Golgotha, lasst uns wieder im Geiste pilgern in dieser Fastenzeit! Das Leiden Christi ist ja unerschöpflich an Lehren und Geheimnissen, ein Meer ohne Grund und Ufer. 

Schenken wir in den folgenden Fastenbetrachtungen unsere Aufmerksamkeit nicht bloß dem leidenden Heiland selbst, sondern auch einigen der Menschen, die bei Seinem Leiden um Ihn sind, sei es als Freunde, sei es als Feinde! Wir begegnen da Namen, teils von düsterem, teils von hellem Klange: Judas, Annas und Kaiphas, Pilatus, Petrus, Simon von Cyrene, Magdalena. Wer kennt sie nicht, diese Namen, wer nennt sie nicht? Was sie sprachen, was sie taten, ihre ganze Gestalt, ihre geistigen Züge, wie sie die heiligen Evangelien uns überliefert haben, ihre Schicksale, wie sie so tief verflochten waren in das Leiden Christi, wie Christus den einen von ihnen zum Falle geworden ist, den andern zur Auferstehung (Lk 2, 34) wollen wir im Geiste hören, schauen und erwägen!

Für heute nehmen wir unter all diesen Menschen einen zur näheren Betrachtung heraus. Es wird aber kein lichtes, freundliches Bild sein, das ich euch diesmal zu entrollen habe. Denn der, von dem ich heute reden will, steht seit fast zweitausend Jahren vor der Menschheit in abschreckender Gestalt, als der unglücklichste Mensch, den es je gegeben hat, als ein Auswürfling unseres Geschlechtes, als der größte Verräter — und er heißt: Judas Ischariot. Schon lange ist diese unheimliche Gestalt versenkt in die schwarze Nacht des Abgrundes. Aus dieser Nacht möge sie vor uns auftauchen in dieser Stunde! Zum Nutzen unserer Seele möge sich uns Judas zeigen und und kundgeben, was er gewesen ist auf Erden und was er geworden ist für alle Ewigkeit! Mit anderen Worten: wir betrachten Judas 1) in seiner Sünde und 2) in seinem Ende.

Jesus, der Sohn Gottes, verraten von Judas, seinem unglücklichen Apostel - seht, das ist der schauerliche Anfang des Leidens Christi. Welch eine Sünde, denjenigen zu verraten, „der mit einem Worte das Weltall zusammenhält; den Unendlichen, den Schöpfer Himmels und der Erde“ (Chrysost., 2. Homil. Über den Verrat des Judas, cap. 3), dessen Wert unermesslich ist, für Geld zu verkaufen, wie wenn er ein verächtlicher Sklave wäre! Und ihn zu verkaufen, wenn man Sein Jünger gewesen ist, „einer von den Zwölfen, das heißt also einer von den Auserlesenen, die täglich mit ihm umgehen und ganz vertraut mit ihm verkehren durften" (Chrysost. a. a. O., cap. 2), wenn man drei Jahre lang seine Lehren gehört, seine Geheimnisse vernommen, Seine Wunder mitangesehen hat, wenn man Apostelamt, Apostelwürde, Apostelgnade von Ihm erhalten hat! Und Ihn verraten auf so unwürdige Weise, so schleichend, so heimtückisch; Ihn verraten an so erbitterte Feinde, das Lamm Gottes ausliefern an so herzlose Henker, die kein Erbarmen kennen — das ist eine Tat, die mit Recht den Abscheu der ganzen Menschheit auf Judas herniedergezogen hat! Wenn man von jemand sagt: er ist ein Judas — der ist damit gekennzeichnet und gebrandmarkt. So werden wir das scharfe Wort begreifen, das der Heiland einmal gebrauchte, als er wehmütig hinblickte auf die Schar seiner Apostel und ausrief (Joh 6, 71): „Habe ich nicht Zwölf auserwählt? Und einer von euch ist ein Teufel.“ Höret es: ein Apostel ist ein Teufel! Was gibt es Boshafteres und Gemeineres als einen Teufel!

Aber beachtet wohl: er ist nicht immer ein Teufel gewesen; es gab eine Zeit, wo auch Judas gut war. Da müssen wir verwundert fragen: Was ist denn geschehen, dass Judas aus der höchsten Würde, die es in der Kirche gibt, der eines Apostels, so tief hinabsinken konnte? Das hat, wie es oft geht, mit Kleinem angefangen. Der unglückliche Mensch hatte eine übertriebene Liebe zum Gelde, und das Geld - das Geld, das schon so viel Schlimmes gestiftet, hat ihn sachte hinabgeführt zum tiefsten Abgrund. „Die Habsucht“, sagt der Hl. Chrysostomus (a. a. D., cap. 3) „hat alles Unheil (bei Judas) angerichtet.“ Schon war er aus Geiz zum Dieb geworden („weil er ein Dieb war“, Joh 12, 6), als Magdalena die kostbare Salbe ausgoss über den Heiland. Da war es schon so weit gekommen, daß er Geld dafür in seinem Beutel zu haben wünschte; es kam zum Murren, zum Hass gegen Christus, zu Unehrerbietigkeit und Unglauben. Es war ihm zu wenig, was er durch Diebstahl zur Seite brachte. Sein Herz ist voll Unzufriedenheit (Joh 4 ff). Da wirft der Satan einen infamen Gedanken in die Seele des Judas: verrate ihn, dann kommst du zu Geld! Was war das für ein verhängnisvoller Augenblick, als der Gedanke des Verrates zum erstenmal in ihm aufblitzte und er nicht widerstand! Immer mehr blies der Satan dieses Feuer an, bis das Herz des Judas in Flammen stand. Geliebte, wir sehen es da wieder mit Schrecken, wohin der Mensch kommen kann, wenn er seine Leidenschaften nicht bewacht. Zuerst spinnt der Teufel aus einer unbewachten Leidenschaft einen dünnen Faden und zuletzt dreht er einen dicken Strick, mit dem er sein Opfer erfasst.

Stellt euch jetzt vor, wie Judas eintritt in die Versammlung des Hohen Rates der Juden! Mit Erstaunen sehen sie ihn kommen. Was, sagen sie, das ist ja einer von den Zwölfen, die den Galiläer begleiten; was mag er wollen? Und wie wird ihr Erstaunen gewachsen sein, als sie aus dem Munde des Apostels die entsetzliche Frage hörten: „Was wollt ihr mir geben, dass ich ihn euch ausliefere?“ (Mt 26, 15). „Ihn!“ Er nennt Jesus nicht beim Namen, das kann er nicht, er sagt nur: ihn, sie wissen ja schon, wen er meint. Meine Christen, was wird der Heiland in Seinem Innern empfunden haben, als er von der Ferne den ganzen schmutzigen Handel mit ansah! Welche Schmach für Ihn, wenn sie im Hohen Rate zueinander sagten: Da seht, was der für Jünger hat! Welche Demütigung für Ihn, dass in diesem Kaufhandel ein so geringer Preis für Ihn bezahlt wird: dreißig Silberstücke! Ewiger Vater, Schöpfer der ganzen Welt, siehe welchen Preis sie für Deinen eingeborenen Sohn geben! 

Fortsetzung folgt!

Quelle: Fastenpredigten von Paul Stiegele, Domkapitular, 1904

Alle Bilder dieser Reihe:  Fastentücher in den Kirchen Österreichs