Aus der Geschichte der Liturgie der Fastenzeit
Eine Spur der ursprünglichen Dauer der Fastenzeit, sechs Wochen, also 42 Tage, hat sich noch im Missale erhalten, indem es in dem Stillgebet (Secreta) des ersten Fastensonntages noch immer heißt: Sacrificium quadragesimalis initii solemniter immolamus [„Das Opfer des Beginns der Vierzigtagezeit weihen wir feierlich …“]. Da an den Sonntagen, wie bekannt, nirgend gefastet wurde, so ergaben sich für die Kirchen des Abendlandes in Wirklichkeit nur 36 Fasttage, ein Beweis, dass das Wort quadragesima ursprünglich nur die Zahl der Tage bezeichnete, über welche die Vorbereitungszeit sich erstreckte. Da aber der Herr vierzig Tage gefastet hatte, so war man bemüht, auch diese Zahl wirklich herauszubringen, und führte am Anfang die noch fehlenden vier Tage hinzu. Diese Änderung vollzog sich erst Ende des 7. oder 8. Jahrhunderts und tritt uns erst im sog. Sacramentarium Gelasianum entgegen, während Papst Gregor I. selbst noch die Zahl der wirklichen Fasttage auf 36 normierte. Es wurden nun auch noch die drei vorangehenden Sonntage in die Vorbereitungszeit mit eingbezogen und erhielten die Namen quinquagesima, sexagesima, septuagesima.
Der eigentliche Anfang der Fastenzeit war nun der Mittwoch vor der Quadragese, welcher im Gregorianum zwar mit einer besonderen Messe versehen ist, aber seinen jetzigen Namen Aschermittwoch (feria IV cinerum) noch nicht führte.
Er hat seinen Namen von dem Bestreuen mit Asche. Zu den Zeremonien der Kirchenbuße gehörte es, das Haupt der Büßer mit Asche zu bestreuen als Zeichen der Trauer. Da nun die öffentliche Kirchenbuße gewöhnlich mit der Fastenzeit begann und abschloss, so heftete sich dieser Gebrauch an den genannten Tag und wurde bald nicht mehr von den Büßern allein, sondern von allen geübt, während noch die Synode von Benevent 1091 ihn zunächst für die Kleriker vorschrieb.
Die Asche sollte aus den Palmzweigen des vorangegangenen Palmsonntages bereitet werden. Jetzt wird sie außerdem noch benediziert.
Ferne ist zu bemerken, dass nicht die Quadragese [40tägige Zeit] dem Gedächtnis des Leidens Christi gewidmet, sondern dafür lediglich die Karwoche bestimmt ist. Zweck der Quadragese war ursprünglich nicht, die Gläubigen zur Beherzigung des Leidens Christi anzuhalten, sondern durch Fasten, Bußübungen und Enthaltung von erlaubten Genüssen sie zur würdigen Osterfeier vorzubereiten. Die liturgischen Gebete der Quadragese nehmen darum keine Rücksicht auf das Leiden des Heilandes, sondern reden nur von Fasten und Abtötung.
Ähnlich ist es mit den Perikopen. Erst mit dem Palmsonntag wird des Leidens Christi gedacht, und zwar schon gleich in der Oration des Tages, während in denen des sog. Passionssonntages noch nicht davon die Rede ist. In neuerer Zeit freilich hat man sich bemüht, die Quadragese mit dem Leiden des Herrn dadurch in nähere Beziehung zu setzen, dass man die Freitage zur Gedächtnisfeier einzelner Akte sowie Instrumente des Leidens Christi benützt hat, der fünf Wunden, der Nägel, Lanze usw., des kostbaren Blutes und endlich der sieben Schmerzen Marias. Die für diese Feste verwendeten Offizien sind teilweise Musterleistungen von liturgischer Komposition. Das erste davon, das der Leidenswerkzeuge, wurde schon vor Innozenz VI. (+1362) gestattet und eingeführt.
Im 5. und den folgenden Jahrhunderten fanden in der Quadragese die Skrutinien statt, die gottesdienstlichen Übungen, welche mit den Täuflingen in der Kirche zur Vorbereitung auf die Taufe vorgenommen wurden. Man kann sie nur richtig verstehen, wenn man annimmt, daß sie ein Überrest des Katechumentats der alten Kirche waren. Dasselbe erstreckte sich in den ersten Jahrhunderten bekanntlich über die ganze Fastenzeit bis Ostern und war hauptsächlich auf die Unterweisung der Katechumenen in den Lehren des Christentums berechnet. Als die erwachsene Neophyten im Lauf der Zeit immer weniger wurden und die Kindertaufe Regel wurde, verkürzte man die Übung und Feierlichkeiten und das Katechumenat schrumpfte zu der sog. Skrutinienordnung zusammen, woraus schließlich der jetzige Taufritus hervorging.
Die Skrutinien begannen am Mittwoch der dritten Fastenwoche und dauerten bis Karsamstag; anfangs waren ihrer sieben, zur Zeit aber, als das Gelasianum in Gebrauch war, nur noch drei. Daher nimmt die Messe für den dritten, vierten und fünften Sonntag und die des Samstags vor Passionssonntag auf die Taufe Bezug, aber nicht auf das Leiden Christ. In den jetzt üblichen Messformularen des Römischen Missale sind auch davon kaum noch Spuren zu finden.
Die Orationen der Messe, an den Sonn- wie an den Wochentagen der Quadragese, sind der überwiegenden Mehrzahl nach noch wörtlich dieselben wie im Gregorianum, während die Lesungen zum Teil noch viel älter sind. So wurde das Evangelium des ersten Sonntages der Quadragese, welches vom Fasten Jesu und seiner Versuchung durch den Teufel handelt, schon zur Zeit Leos des Großen an diesem Tage gelesen. Das Evangelium des zweiten Sonntags hat zum Gegenstande die Verklärung auf dem Berge Tabor, die Evangelien der beiden folgenden Sonntage die Heilung des Stummen und die Austreibung des Teufels und die wunderbare Brotvermehrung. Das Evangelium des Passionssonntags betrifft den Versuch, Jesus zu steinigen.
Den Beginn und die Dauer der Fastenzeit machte man im Mittelalter für das Auge dadurch bemerkbar, dass man am Aschermittwoch oder am ersten Fastensonntag in den Kirchen zwischen Schiff und Chor einen großen Vorhang aufhängte, das sog. Fastentuch, im Volksmunde „Hungertuch“ genannt. Dasselbe bleib bis Karfreitag hängen, wurde aber an manchen Orten Sonntags zurückgezogen, offenbar deshalb, weil an den Sonntagen nicht gefastet wird. Das Tuch war meistens schmucklos, nicht selten aber mit bildlichen Darstellungen aus der heiligen Geschichte versehen. Die ersten Erwähnungen in der Literatur finden sich im 9. Jahrhundert, der Gebraucht geht aber jedenfalls in noch ältere Zeiten zurück.
Der Zweck war lediglich ein praktischer: der einfache Mann, der keinen Kalender hatte, sollte daran erinnert werden, daß die Fastenzeit im Gange sei. Allegorische Deutungen blieben natürlich nicht aus. Einen analogen Gebracht hat man übrigens auch in Russland, wo am ersten Fastensonntag der Altarvorhang zugezogen wird und so bleibt bis Palmsonntag.
Während der sechs ersten Jahrhunderte war es stehender Grundsatz, dass in der Fastenzeit Heiligenfeste nicht gefeiert werden dürften. Die erste Ausnahme davon machte die Trullansynode [im Jahr 691 im Kaiserpalast „Trullum“ zu Konstantinopel] zu Gunsten des Festes Mariä Verkündigung. Im Abendland kam man bald davon ganz ab. Dagegen gibt man hier der Trauerstimmung dadurch Ausdruck, dass das Alleluja die ganze Fastenzeit hindurch verstummt, ein Gebrauch, den die griechische Kirche nicht kennt. Die Gebete der Fastenzeit ragen durchaus ernstes Gepräge und erscheint dieselbe schon früher liturgisch reich ausgestaltet indem jeder Wochentag seine eigene Messe hat. In Rom fand in älteren Zeiten jeden Tag eine Prozession statt, indem der Papst von seiner Wohnung aus mit dem Klerus sich in feierlichem Zuge nach irgendeiner Kirche der Stadt begab, wo er halt machte (statio) und die Messe gesungen wurde.
Auszug aus der Heortologie (Christlichen Festkunde) des Priesters Karl Adam Heinrich Kellner (1837 – 1915).