Apostolat im Norden Europas: Die Priesterbruderschaft in Estland
Von Pater Volker Schultze
Estland – wo ist das? Dieser Gedanke kam mir plötzlich, als ich von meinem Distriktoberen im Frühjahr 2020 gefragt wurde, ob ich eine Versetzung dorthin annehmen würde. Ja, wo liegt es? Ich habe mich natürlich gleich schlaugemacht.
Dieses winzige Land liegt an der Ostsee im Norden Europas. Es ist eines der drei baltischen Staaten (zusammen mit Lettland und Litauen). Uff! So weit weg muss ich? Na gut! Außerdem bedeutet es ja auch ein gewisses Abenteuer, dorthin zu gehen. Ich war neugierig. „Ich gehe!“ sagte ich zu meinem Distriktoberen.
Und ich ging. Ich reiste mit dem Auto von der Schweiz, wo ich bisher eingesetzt war, durch Deutschland an die Ostsee und fuhr dort mit der Fähre nach Litauen. Es war nämlich die Zeit von Corona, und ich wusste nicht, ob ich ungestört über Polen reisen konnte. Von Klaipeda (Memel) in Litauen fuhr ich in unser Priorat nach Kaunas. Das war mein neuer Wohnort. Estland wird nämlich von dort aus betreut. Litauen ist der südlichste der drei baltischen Staaten und grenzt an Polen. Als nächstes stand eine lange Reise mit dem Auto nach Tallinn an. Tallinn ist die Hauptstadt Estlands und liegt an der nördlichen Küste gegenüber von Finnland. Die Fahrt dauerte etwa acht Stunden. Mein Prior begleitete mich. Von nun an sollte ich ein ganzes Jahr über mit dem Auto nach Estland fahren, weil durch die Coronakrise das Fliegen schwierig geworden war. Nachdem die Coronazeit vorbei war, konnte ich auch wieder mit dem Flugzeug fliegen, was meine Reisen erheblich erleichtertss
Oh, wie gefiel mir dieses Land gut! Viel Meer, viel Grün (Kiefernwälder) und sehr gute Luft. Die Gläubigen haben sich sehr gefreut, dass jetzt endlich ein Priester regelmäßig zu ihnen kommt. Das hatten sie nämlich vorher nicht. Die Gemeinde war einfach zu klein. Aber um 2019/2020 fing sie plötzlich an zu wachsen und zwar so schnell, dass die Oberen entschieden, einen Priester fest für Estland abzustellen. Und das sollte ich sein.
Unsere Gemeinde dort ist etwa 60-70 Personen stark. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen ist überdurchschnittlich hoch (etwa 20), sodass die Gemeinde insgesamt recht jung ist. Ich bin an drei Sonntagen im Monat dort und lese die Hl. Messe für die Gläubigen und unterrichte Kinder im Katechismus.
Die Sprache war für mich recht schwer zu lernen. Sie ist weit weg vom Deutschen. Als finno-ugrische Sprache gehört sie noch nicht einmal zur indogermanischen Sprachfamilie. Sie ist mit dem Finnischen eng verwandt. Mittlerweile kann ich mich auf niedrigem Niveau unterhalten und auch Kinderbeichten hören. Meine Predigten werden vom Englischen ins Estnische übersetzt, sodass ich sie einfach vorlesen kann.
Manch einer wird sich fragen, warum ich dieses Apostolat angenommen habe. Es wurde mir ja freigestellt. Nun, ich gebe zu, es war die Abenteuerlust. So ein fernes und fremdes Land, ein echtes Missionsland! Das hat mich gereizt. Aber wie sieht die Realität aus?
Die Realität ist, dass der Glaube in Estland seit der Reformation noch stärker als im Westen in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Der Deutsche Orden, der das Land seit dem Mittelalter beherrschte, fiel in dieser Region vollständig zum Luthertum ab. Dann eroberten die Schweden und danach die zaristischen Russen das Land. Letztere brachten die Orthodoxie mit. Als dann 1944 die Sowjets Estland besetzten, fing wie in allen sozialistischen Ländern ein Feldzug gegen die Religion an. Ein einziger katholischer Priester durfte in der sowjetischen Zeit in Estland wirken. Konversionen waren verboten. Erst nach der Wende 1991 fing die Religion wieder zu wachsen an. Es wurde eine Apostolische Administratur errichtet. Der heutige Bischof ist Philippe Jourdan, ein Mitglied des Opus Dei. Die Lage ist dramatisch: Über 50 Prozent der Esten sind nicht getauft und haben mit Religion oder mit dem Glauben an Gott überhaupt nichts zu tun. Die größte religiöse Minderheit sind die Orthodoxen, dann kommen die Lutheraner und danach erst die Katholiken mit etwa 6000 Gläubigen (von 1,3 Mill. Einwohnern). Mit anderen Worten: Da ist nicht viel da. Alles muss von Grund auf wieder aufgebaut werden. Die Priesterbruderschaft ist seit 1993 in Estland. Angefangen haben wir, die Hl. Messe in Privathäusern oder Mietwohnungen zu lesen. Eine Zeitlang hatten wir eine kleine Kapelle in einer mittelalterlichen Sakristei. 2015 haben wir dann diese kleine Kapelle gebaut (Bild oben)
Dort lesen wir auch heute noch die Hl. Messe. Aber durch das plötzliche und anhaltende Wachstum wird sie nun einfach zu klein. Manchmal müssen die Gläubigen draußen stehen, weil drinnen kein Platz mehr ist. So hat P. Stehlin, der Distriktobere, entschieden, mit Gottes Hilfe eine Kirche an die Kapelle anzuschließen. Es fanden sich auch Spender aus den USA. So konnten wir im Jahr 2021 mit dem Bau beginnen. Der erste Spatenstich war, ohne daß wir das absichtlich geplant hätten, am 13. Mai, dem Jubiläum der ersten Erscheinung Unserer Lieben Frau in Fatima. Und der Titel der Kirche wird „Das Unbefleckte Herz Mariens“ sein. Uns ist erst kurz vorher bewusst geworden, was für ein besonderes Datum das ist. Ein Fingerzeig Gottes, dass Maria mit uns ist!
Der Bau ging auch recht gut weiter. Die Spendengelder kamen, und so können wir im Winter dieses Jahres den Rohbau fertigstellen.
So sah es dort im Oktober noch aus. Mittlerweile ist auch das Dach fertig. Aber jetzt ist erst einmal Baustopp, weil die Gelder ausgehen. Die Spenden gehen vorerst nicht mehr weiter. Nun ist guter Rat teuer. Seit Monaten betet die Tallinner Gemeinde nach jeder Hl. Messe innigst zum hl. Joseph, dass er den Kirchbau segnen möge. Und bisher hat er auch gesegnet. So vertrauen wir darauf, dass er uns auch jetzt weiterhilft.
Letztes Jahr hat ein eifriger Gläubiger mithilfe von Spenden aus dem Ausland ein altes Herrenhaus im Süden Estlands gekauft, das bis zuletzt als Hotel fungiert hat und daher noch gut ausgestattet ist. Es bedurfte nur einiger kleiner Renovierungen. Dieser Wohltäter stellt uns nun dieses Haus für unser Apostolat zur Verfügung. Wir haben nämlich auch im Süden des Landes einige Gläubige, die gerne zur Hl. Messe kommen würden. Für diese kommen wir jetzt zweimal im Monat dorthin. Man sieht immer wieder neue und zwar auch sehr viele junge Gesichter.
Mittlerweile kommen so etwa 10 Personen regelmäßig zur Hl. Messe nach Kursi. So heißt das Herrenhaus im Süden.
Übrigens wird von Tallinn aus auch Finnland betreut. Dort haben wir einige Gläubige, zumeist Esten, die nach Finnland übergesiedelt sind. Unser treuer Mithelfer, P. Ivo Õunpuu, ein befreundeter estnischer Priester, fährt regelmäßig mit der Fähre nach Finnland, um dort für die ebenfalls etwa 10 Gläubigen die Hl. Messe zu lesen.
Der liebe Gott eilt uns in Estland ein wenig voraus. Bisher haben wir nur von der Gründung eines Priorates in Estland geträumt. Die Realisierung liegt noch in ferner Zukunft. Jedoch hat uns dieses Jahr einer unserer direkten Nachbarn kontaktiert. Er wohnt schon lange in seinem Häuschen direkt nebenan. Jetzt aber müssen er und seine Frau ausziehen, denn er ist alt und krank geworden und kann die Treppen nicht mehr gut steigen. Und stellen Sie sich vor: Sein größter Wunsch ist es, das ganze Grundstück an uns zu verkaufen. Warum gerade an uns? Weil er Freude an unserem Wirken in seiner Nachbarschaft hat und so sicher sein kann, dass in seinem Haus auch künftig hin viel gebetet werden wird. Er ist nämlich selbst ein frommer Christ, wenn auch kein Katholik. Er bietet uns das Haus für 450.000 Euro an, zu einem sehr günstigen Preis also, denn normalerweise zahlt man in dieser Region momentan für ein solches Grundstück zwischen 6-700.000 Euro.
In diesem Haus könnten bis zu fünf Priester plus vielleicht ein Bruder, eine Schwester oder eine Haushälterin wohnen. Es ist also wie geschaffen für ein zukünftiges Priorat. Man könnte das Haus zum Beispiel zunächst einige Jahre lang vermieten, bis wir tatsächlich bereit sind, es als Priorat zu nutzen. Auf diese Weise könnten wir auch die Kapellenkasse ein wenig sanieren, denn manchmal weiß ich nicht, wie ich die nächsten Rechnungen bezahlen soll.
Und so segnet der liebe Gott unser Apostolat im Norden. Aber warum hat er es so eilig? Ich denke, die Antwort ist in der Vergangenheit zu suchen: Im Jahr 1215 hat der zuständige Missionsbischof die ganze Region der Allerseligsten Jungfrau Maria geweiht. Diese Weihe wurde von Papst Innozenz III. offiziell anerkannt. Seitdem trägt das Land den offiziellen kirchlichen Titel: Terra Mariana – Land Mariens. Und weil heute die Zeit Fatimas ist – eine besondere Zeit des Kampfes der Muttergottes gegen Satan – deswegen bittet Unsere Liebe Frau gerade jetzt ganz besonders für Estland, für Ihr Land, das vom Sozialismus, dieser Geißel Satans, so sehr heimgesucht worden ist. Jedenfalls denke ich, daß das ein Grund sein könnte. Ich habe einmal gehört, daß diese Art von Eile, wenn es um das Heil der Seelen geht, eine besondere Handschrift der Muttergottes ist. Wenn sie sich einmal einer Sache annimmt, dann drängt es sie voran. Es geht schließlich um die Rettung der Seelen, die ihr größtes und dringendstes Anliegen beim lieben Gott ist! Gut, Maria, wir wollen ja mit Dir mitwirken, aber wir wissen nicht, wie wir dieses Geld aufbringen sollen! Deswegen wenden wir uns voller Zuversicht an Deinen lieben Bräutigam, den hl. Josef, der ja seine Verehrer niemals im Stich lässt!
Im Vergleich zu anderen Ländern sind unserer Zahlen ziemlich klein, das ist wahr. Dennoch ist es unverkennbar, dass die liebe Muttergottes dieses Apostolat mächtig antreibt. Es ist eben doch Ihr Land. Und Sie kümmert sich darum.
Im Mittelalter hat das Christentum gut angefangen in Estland. Die Dänen haben die Region von Tallinn erobert und dann deutsche Kaufleute dorthin gerufen. Die haben Tallinn gebaut. Die heutige Altstadt ist ihr Werk. Zum Glück ist sie von den Kriegen verschont geblieben, sodass der Besucher sie noch so bewundern kann, wie sie einst war.
Es gibt eine Unter- und eine Oberstadt. Letztere liegt auf einem Hügel im Stadtzentrum und ist durch eine hohe Mauer aus dem Mittelalter befestigt.
Noch ein Wort zum Klima: Da Estland schon ziemlich weit im Norden liegt, haben wir hier auch ein wenig schon skandinavisches Klima. Die Winter sind oft recht kalt und schneereich. Um die Jahreswende sind die Nächte auch sehr lang (manchmal bis zu 22 Stunden). Da kommt der Schnee den Esten wie gerufen. Er hellt nämlich die Dunkelheit ein bisschen auf und hebt die Laune an. Dann bauen die Kinder riesige Schneeburgen und lassen sich auf großen Schlitten von Rossen durch die Stadt fahren. Im Sommer dagegen tritt das Gegenteil ein: Um Ende Juni hören die Tage gar nicht mehr auf. Das sind die sogenannten Weißen Nächte, das heißt Nächte ohne Finsternis. Die Sonne geht dann für nur etwa zwei Stunden mal kurz unter. Dann kann man mitten in der Nacht bei Tageslicht im Park oder am Strand spazieren gehen. Sie sehen also: Ein Besuch bei uns in Estland lohnt sich aus vielerlei Hinsicht!
Vor allem bitten wir die Leser dieses Artikels um ihr Gebet für unser Apostolat. Gott will diese Arbeit ganz offensichtlich. Dennoch möchte er ebenso sicher, dass wir viel dafür beten. Ich lade Sie alle von Herzen dazu ein! Vielen Dank!
Für diejenigen, die unser Apostolat auch finanziell unterstützen möchten, sei hier noch die Bankverbindung unseres Kirchprojekts angegeben:
Sihtasutus Fidelitas (Stiftung Fidelitas)
Pärnu Maantee 397, 10914, Tallinn, Estland
IBAN: EE207700771005315113 BIC/SWIFT: LHVBEE22
Bank: AS LHV Pank, Tartu mnt 2, 10145, Tallinn
Möge der hl. Josef alle Beter und Spender segnen! Darum bitten wir ihn inständig!
Jumal õnnistagu teid kõiki! – Gott segne Sie alle!