Die 6. Vaterunser-Bitte

Quelle: Distrikt Schweiz

Von Pater D. Köchli

Am 7. Dezember geisterte eine Meldung aus dem Vatikan durch die Medien: Der Papst hätte die deutsche Übersetzung des Vaterunsers kritisiert, und zwar die 6. Bitte: „Und führe uns nicht in Versuchung“, und gefordert, dass man sie anders übersetzen müsste: „Und lass uns nicht in Versuchung geraten.“ Der Papst sagte in einem Interview, es sei nicht Gott, der den Menschen in Versuchung stürze, um zu sehen, wie er falle. „Ein Vater tut so etwas nicht; ein Vater hilft sofort wieder aufzustehen. Wer dich in Versuchung führt, ist Satan“, so der Papst.

Diese Forderung hat ein ungewöhnliches Echo ausgelöst. Bischöfe und Exegeten weisen darauf hin, dass die deutsche Übersetzung, wie wir sie kennen, dem griechischen Wortlaut der Heiligen Schrift getreu entspricht. Und auch die Kirche betet seit jeher im lateinischen Text: „Et ne nos inducas in tentationem“ – was exakt das gleiche heisst. Wer hat also recht: die vom Heiligen Geist inspirierte Heilige Schrift oder der aktuelle Papst, der nach 265 Vorgängern im Amt und 2000 Jahren Kirchengeschichte plötzlich findet, dass es sich nicht mit der Barmherzigkeit Gottes vertrage, wenn es über ihn heisse, dass er die Menschen in Versuchung führen könnte?

Zunächst scheint ihm der hl. Jakobus recht zu geben: „Keiner sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht. Gott kann nicht zum Bösen versucht werden, und er versucht auch selbst niemanden“ (Jak 1,13).

Um dies zu verstehen, wollen wir uns dem hl. Matthäus zuwenden. In Mt 4,1 heisst es dort: „Alsdann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden.“ Ausdrücklich also kommt hier zum Ausdruck, dass es der Wille Gottes ist, dass selbst der Menschensohn die Versuchung zu erleiden habe; mit „Geist“ ist eindeutig der Heilige Geist gemeint. Aber es steht an dieser Stelle auch unmissverständlich, dass der Versucher selbst nicht Gott, sondern der Teufel ist.

Denken wir auch an Abraham, dem Gott den klaren Befehl gibt, seinen Sohn zu opfern, um dessen Glauben zu prüfen: „Nach diesen Ereignissen stellte Gott den Abraham auf die Probe“ (Gen 22,1ff). Und auch zu Tobias spricht der Erzengel im Auftrag Gottes: „Weil du angenehm vor Gott warst, musste die Versuchung dich bewähren“ (Tob 12,13 nach dem Vulgata-Text).

Im Gegensatz zu den Menschen, die offensichtlich um der Bewährung willen versucht werden, kommt dieser Grund bei der Versuchung Christi natürlich nicht zu tragen. Vielmehr war es einfach nur angemessen, dass auch Christus versucht werde, und zwar in dem Sinne, wie es der hl. Paulus den Hebräern geschrieben hat: „Weil er selbst unter Versuchungen gelitten hat, vermag er denen zu helfen, die versucht werden“ (Hebr 2,18). Und etwas weiter unten: „Denn wir haben keinen Hohepriester, der mit unseren Schwachheiten nicht mitempfinden könnte, sondern einen, der in allem ebenso versucht worden ist, die Sünde ausgenommen (Hebr 4,15).

Was sind also die Absichten der göttlichen Vorsehung, wenn uns Gott „in die Versuchung führt“? Ich fasse hier die Gedanken von Adolphe Tanquerey in seinem Werk „Grundriss der aszetischen und mystischen Theologie“ zusammen (Nr. 902ff):

Wir sollen uns durch die Bewährung in der Versuchung den Himmel verdienen: Gott will, dass er uns den Himmel nicht einfach nur als reines Geschenk geben kann, sondern als Lohn für die Bewährung. Wir werden die Krone der Gerechtigkeit mit umso mehr Freude und Ehre tragen, je mehr wir taten, um sie zu verdienen. So freut sich auch Paulus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Nun liegt für mich die Krone der Gerechtigkeit bereit“ (2 Tim 4,7).

Die Versuchung dient als Mittel zur Reinigung: Wenn wir unter Versuchungen zu leiden haben, werden wir zu Akten der Reue, der Scham und der Demut gedrängt wegen unseres früheren Versagens in der Versuchung. Und für die Zukunft ist es ein Ansporn, energisch zu kämpfen, um nicht zu erliegen.

Und endlich ist sie ein Mittel für den inneren Fortschritt, und zwar in dreifacher Hinsicht:

Sie wirkt wie ein Peitschenhieb und weckt uns dadurch, wenn wir in der Wachsamkeit erlahmen.

Sie ist eine Schule der Demut, da wir durch die Tatsache der Versuchung unsere eigene Schwäche erfahren, die Notwendigkeit der Gnade begreifen und zu einem tieferen Gebet veranlasst werden.

Und sie ist eine Schule der Gottesliebe: Denn um sich des eigenen Widerstandes sicher zu sein, wird man sich in die Arme Gottes werfen. Und auf die von Gott erfahrene Hilfe hin wird man sich in Dankbarkeit üben.

Nun können wir auch die eingangs erwähnte Jakobus-Stelle auflösen und richtig einordnen: Gott versucht uns nicht unmittelbar, und somit hat der hl. Jakobus recht: „Vielmehr wird jeder, der versucht wird, von der eigenen Begierlichkeit gereizt und gelockt“ (Jak 1,14) – oder eben vom Teufel (Mt 4,1). Aber Gott lässt zu, dass wir versucht werden, gibt aber gleichzeitig auch alle nötigen Gnaden, damit wir sie siegreich überwinden können: „Gott ist treu. Er lässt euch nicht über eure Kräfte versuchen, sondern schafft mit der Versuchung auch den guten Ausgang, dass ihr sie bestehen könnt“ (1 Kor 10,13). So hat er auch bei der Versuchung Jobs dem Teufel klare Grenzen gesetzt, die er nicht überschreiten durfte: „Wohlan, er sei deiner Hand überlassen; nur sein Leben schone“ (Job 2,6)!

Warum also diese Initiative des Papstes? Wir kommen nicht umhin festzustellen, dass der Papst hier die Barmherzigkeit Gottes einseitig betont, zu Ungunsten seiner Gerechtigkeit. Modernistische Theologen gehen ja sogar so weit zu behaupten, dass die Hölle – wenn sie denn existiere, leer sein müsse, da die Vorstellung einer ewigen Strafe mit der Barmherzigkeit Gottes nicht vereinbar sei. Letztlich ist dies die Vorstellung eines schwächlichen Gottes.

Die Christenheit hatte nie Schwierigkeiten, diese Vaterunser-Bitte richtig zu verstehen. So erklärt z.B. der hl. Thomas von Aquin, mit „nicht in Versuchung führen“ sei nicht gemeint, dass wir nicht in Versuchung geraten, sondern dass wir von der Versuchung nicht besiegt werden (vgl. S.Th. II-II 83,9).

Es gibt also keinen Grund, an der Übersetzung der 6. Vaterunser-Bitte etwas zu ändern. Aber wenn diese Diskussion wenigstens dazu führt, dass wir das Gebet des Herrn mit mehr Eifer und Andacht beten und uns wieder einmal mit seinem Inhalt vertieft befassen, dann hat sie wenigstens etwas Gutes gebracht.

Bitten wir Christus um viel Kraft, den Versuchungen mutig und entschieden entgegenzutreten, wie er auch für die Apostel gebetet hat: „Ich bitte nicht: Nimm sie aus der Welt, sondern: Bewahre sie vor dem Bösen“ (Jo 17,15).