10. Die gottmenschlichen Tätigkeiten und die Leidensfähigkeit Christi

Quelle: Distrikt Deutschland

Von Pater Matthias Gaudron

Wahrer Gott und wahrer Mensch – Die Lehre der Kirche über Jesus Christus

10. Die gottmenschlichen Tätigkeiten und die Leidensfähigkeit Christi

Da Christus zwei Naturen hat, kann er durch beide wirken. Es gibt bei ihm folglich Tätigkeiten, die nur einer der beiden Naturen zukommen. So erhält er nur als Gott die Welt im Sein. Die menschliche Natur hat daran keinen Anteil. Andere Tätigkeiten kamen Christus nur gemäß seiner menschlichen Natur zu, wie Essen und Trinken, von einem Ort zum anderen gehen, Schmerzen empfinden usw.

Die gottmenschlichen Tätigkeiten

Es gibt nun aber auch Tätigkeiten, bei denen beide Naturen zusammenwirken. Nach einem Wort des Pseudo-Dionysius Areopagita kann man dies eine „neue, nämlich die gottmenschliche Wirksamkeit“[1] nennen. Dieser Ausdruck wurde von manchen Monophysiten zwar benutzt, um ihre Häresie zu bekräftigen: Wie es in Christus nur eine Natur gäbe, so auch nur eine Art von Tätigkeit bzw. Wirken. Der Ausdruck wurde von einer Lateransynode unter Papst Martin I. aber als richtig erklärt, insofern er „auf die wunderbare und glorreiche Einung“ von beiden Naturen hinweise (DH 515).

Diese gottmenschlichen (theandrischen) Tätigkeiten sind die Wunder, die Christus vermittels seiner menschlichen Natur wirkte, wenn er z. B. durch eine Berührung, ein von ihm gesprochenes Wort oder einen Befehl seines menschlichen Willens einen Kranken heilte, den Sturm stillte oder die Brote vermehrte.

Der hl. Thomas v. Aquin erklärt dieses Zusammenwirken von göttlicher und menschlicher Natur gemäß der Lehre von Haupt- und Instrumentalursache.[2] Wenn z. B. ein Künstler eine Statue meißelt, so ist der Künstler die Hauptursache, der Meißel dagegen die Instrumentalursache. Beide Ursachen wirken zusammen, indem der Künstler den Meißel führt und mit dessen Hilfe Stücke vom Stein abschlägt. Wir können viele Tätigkeiten nur mit Hilfe eines Werkzeugs ausführen. Wenn wir einen Brief schreiben wollen, brauchen wir ein Schreibwerkzeug; wenn der Schreiner das Holz bearbeiten will, braucht er Säge und Hobel. Die göttliche Natur hat nun natürlich kein Werkzeug nötig, sondern kann alles unmittelbar bewirken. Christus wollte aber gewisse Tätigkeiten vermittels seiner menschlichen Natur vollbringen, indem er z. B. einen Aussätzigen berührte und so heilte. Die Kraft der göttlichen Natur wurde hier vermittels der menschlichen Natur dem Kranken zugewendet.

Dies findet im Heilswerk seine Fortsetzung bei der Ausspendung der heiligmachenden Gnade durch die Sakramente. Die Gnade kommt nämlich von Gott selbst. Nur er kann das Geschöpf über seine Natur emporheben und mit sich verähnlichen. Christus hat uns diese Gnade als Mensch durch sein Leiden verdient und kann sie auch als Mensch austeilen. Bei der Sakramentenspendung bedient er sich allerdings weiterer Werkzeuge, denn sowohl der menschliche Spender als auch der Ritus des Sakraments sind für Christus ein Werkzeug, die von ihm verdiente Gnade auszuspenden.

Im eigentlichen Sinn nennt man nur die Tätigkeiten, bei denen göttliche und menschliche Natur zusammenwirken, gottmenschliche (theandrische) Tätigkeiten. In einem weiteren Sinn kann man aber auch die Tätigkeiten so nennen, die allein durch die menschliche Natur verrichtet werden, da sie Tätigkeiten einer göttlichen Person sind. Man kann darum sagen, Gott sei auf dieser Erde gewandelt, er habe gegessen und er habe gelitten. Weil diese menschlichen Tätigkeiten die Taten einer göttlichen Person sind, haben sie einen unendlichen Wert, und so konnte Christus wahrhaft nach der Strenge der Gerechtigkeit alle Sünden der Menschen sühnen.

Ansonsten hatte die menschliche Natur Christi keine wunderbaren Kräfte. Sie war zwar eine vollkommene menschliche Natur, aus sich aber weder allmächtig noch in der Lage, Wunder zu wirken. Nur als Instrument der Gottheit konnte sie bei den Wundern mitwirken.

Die Leidensfähigkeit Christi

Von den Folgen der Erbsünde nahm Christus weder die Schwäche des Verstandes noch die Neigung zur Sünde an, denn Irrtum und Sünde wären mit seiner Würde als Gottmensch unvereinbar gewesen und hätten auch für das Werk der Erlösung keinen Vorteil gebracht. Da auch Leiden und Tod eine Folge der Ursünde sind, könnte man meinen, sie seien für den Gottmenschen ebenfalls nicht angemessen gewesen. Da Christus von der Erbsünde frei war, gab es für ihn tatsächlich keine Notwendigkeit zu leiden und zu sterben.

Dennoch hat Christus das Leiden und den Tod freiwillig auf sich genommen, um dadurch die Sünden der Menschen zu sühnen. Der Hebräerbrief sagt in Anlehnung an Psalm 39, Christus habe bei seinem Eintritt in die Welt gesprochen: „Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir geschaffen. … Siehe, ich komme, … Deinen Willen, o Gott, zu erfüllen“ (10,5–7). Weil er als Gott keine Sühne leisten konnte, hat der Sohn Gottes eine menschliche Natur angenommen, um diese unter großen Leiden opfern zu können. Dies ist die Selbstentäußerung, von der Paulus im Philipperbrief spricht: „Er entäußerte sich, nahm Knechtsgestalt an und wurde den Menschen gleich. Er erniedrigte sich und ward gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (2,7–8). „Der leidensunfähige Gott hat sich gewürdigt, ein leidensfähiger Mensch zu werden, und der Unsterbliche, den Gesetzen des Todes zu unterliegen“, sagt Papst Leo d. Gr. in einer Predigt.[3]

Das Leiden war für den Gottessohn also zwar eine Herablassung, mit seiner Würde aber nicht unvereinbar, da es ihm Gelegenheit gab, den Menschen seine große Liebe zu beweisen – „eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13) – und uns ein Beispiel des Gehorsams und der Geduld zu geben, uns aber auch zu zeigen, wie schwer die Sünde in den Augen Gottes wiegt, denn wenn die Sünde etwas Geringes und Leichtes wäre, wäre das schwere Leiden Christi völlig unangemessen gewesen.

Wie wir in der 8. Folge bereits gesehen haben, hätte die selige Schau des göttlichen Wesens, die die Seele Christi genoss, an sich jedes Leiden unmöglich gemacht, da die Seligkeit normalerweise von der höchsten Erkenntniskraft auf die gesamte menschliche Natur übergeflossen wäre. Der Sohn Gottes verhinderte jedoch dieses Überfließen der Seligkeit auf die niederen Seelenkräfte und den Leib, außer in den wenigen Stunden der Verklärung auf dem Berg. Schon die Kirchenväter sagen daher, dass das Leiden Christi teils natürlich, teils übernatürlich war. Es war natürlich, weil es die normale Folge der ihm zugefügten Verletzungen und Beleidigungen war. Es war aber gleichzeitig übernatürlich, weil es ihn nicht gegen seinen Willen treffen konnte, wie es bei uns ist, sondern nur insoweit er es zulassen wollte.

Das Leiden traf nicht nur seinen Leib, sondern auch seine Seele. Zunächst litt wie bei jedem Menschen auch seine Seele unter den körperlichen Schmerzen. Im Unterschied zum Tier reflektiert der Mensch über seine Schmerzen, ist sich ihrer bewusst und schätzt ihre Größe und Dauer ein. Wahrscheinlich leidet der Mensch darum unter seinen Schmerzen mehr als das Tier. Dazu kamen aber auch noch die eigentlich seelischen Leiden wie Angst und Traurigkeit. Im Ölgarten ließ Christus zu, dass ihn angesichts der bevorstehenden Leiden Todesangst überfiel, die ihm sogar blutigen Schweiß auspresste. Er war traurig über den Verrat des Judas, die Schwachheit seiner Jünger, die Verstocktheit der Führer seines Volkes und den Wankelmut der meisten seiner Volksgenossen. Vor allem litt er unter der Sünde. Während wir die Größe und Schwere der Sünde meist nicht richtig einschätzen können, sah er klar, wie hässlich die Sünde ist und welche Buße sie fordert. Von einigen Heiligen liest man, Gott habe ihnen ihren Seelenzustand gezeigt, und obwohl sie nur einige halbfreiwillige lässliche Sünden begangen hatten, hätten sie das Bewusstsein dieser Sünden kaum ertragen können. Von daher kann man ein wenig ermessen, wie ungeheuer groß der Schmerz Christi sein musste, der die Sünden aller Menschen aller Zeiten auf sich nahm.

Eindrucksvoll schildert Kardinal Newman diesen Seelenkampf Christi:

Er hatte zu tragen, was für uns so leicht, so natürlich, so willkommen ist … Er hatte, meine Brüder, die Last der Sünde zu tragen. Er hatte eure Sünde zu tragen. Er hatte die Sünden der ganzen Welt zu tragen. … O welch ein Entsetzen, da er sich betrachtet und sich nicht wiedererkennt, sich als befleckten und widerlichen Sünder fühlt … Welch innerer Konflikt, da er seine Augen, seine Hände und Füße und Lippen und sein Herz empfand, als wären sie die Glieder des Bösen und nicht die Glieder Gottes. Sind das die Hände des unschuldigen Gotteslammes, einst so rein, heute rot von tausend und abertausend barbarischen Bluttaten? Sind das seine Lippen, die nicht mehr Gebete, Lobpreis und Segnungen sprechen, vielmehr beschmutzt erscheinen von den Flüchen, Gotteslästerungen und Lehren Satans? Sind das die Augen, entweiht durch all die schamlosen Bilder und gottlosen Zaubereien, um derentwillen die Menschen ihren anbetungswürdigen Schöpfer verlassen haben? Und seine Ohren: sie gellen wider vom Getöse der Gelage und des Streits. … Sein Gedächtnis ist erst recht beladen mit aller Sünde, die seit dem Sündenfall in allen Landen der Erde begangen worden ist …[4]

Viele Mystiker sagen zudem, eine besondere Seelenqual Jesu habe in der Erkenntnis bestanden, dass seine Leiden für viele umsonst seien, weil sie trotzdem verloren gingen.

 

Anmerkungen

[1] Epist. 4 ad Cajum.

[2] S Th III, q. 19, a. 1.

[3] Sermo 22, cap. 2.

[4] Die Seelenqualen unseres Herrn in seiner Passion; in: John Henry Newman: Predigten, Band XI, Stuttgart: Sarto 2002, S. 378-381.