6. Station: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch

Die Menschen am Weg halten Abstand. Neugier, Mitleid, Spott und Sensationslust bewegen sie, der grausamen Szene beizuwohnen. Jesus ist nur das Objekt ihres Interesses. Niemand kümmert sich um die Person Jesu oder zeigt wirkliche Anteilnahme.
Veronika ist die Ausnahme. Furchtlos drängt sie sich durch das Getümmel. Die Meinung der anonymen, seelenlosen Menge hat für sie kein Gewicht. Sie verliert sich nicht im entmenschlichten Pulk, der den Wert einer Person nicht schätzt. Sie ist Mensch, Frau, sie liebt den Meister und begegnet – der Gottesmutter gleich – dem Herrn in seiner Unmittelbarkeit.
Wiederum bekennen wir eine Sünde, die durch die Coronasituation offenbar wird. Wir klagen über die Maske. Sie erschwert das Atmen und ist unangenehm zu tragen. Aber vor allem, so behaupten wir, macht sie einen offenen und direkten Kontakt unmöglich. Was die digitalen Wege der Kommunikation angeht, wird immer deutlicher: Die genialste Technik wird niemals den unmittelbaren Austausch zwischen zwei Personen ersetzen. Wir wehren uns gegen die Maskenpflicht und verurteilen das Home-Office vor allem, weil Umstände und Autoritäten sie uns auferlegen.
Unser Urteil fällt anders aus, sobald wir es sind, die eine Wahl frei treffen! Das Gesicht hinter einer spiegelnden Sonnenbrille zu verstecken, ist Mode. Gerne nutzt man Kontaktlinsen, um die Augenfarbe zu verändern, oder den Augenausdruck zu verbergen. Für die Frau von Welt gehört es zum guten Ton, Make-up zu tragen, nicht nur, um die natürliche Schönheit zu betonen, sondern zur Veränderung ihres Äußeren. Leider kennen wir manche Gesichter nur im unnatürlichen blauen Widerschein ihrer Bildschirme. So machen sich heute viele Zeitgenossen freiwillig gesichtslos!
Veronika nähert sich Christus. Sie reicht ihm ihr Tuch. Sie leistet dem Menschen Jesus einen Liebesdienst. Aber ihr Hauptantrieb ist der Wunsch, Ihm unmittelbar zu begegnen.
„Antlitz ist sichtbar werdender Geist!“ Oder wie die heilige Hildegard von Bingen sagt: „Die Augen sind die Fenster der Seele!“ Das Auge ist nicht nur ein rezeptives, aufnehmendes Organ, sondern genauso der ‚Sender‘ unserer Seelenverfassung. Das Auge befiehlt, suggeriert und beeinflusst. Es kann Liebe offenbaren, Angst einflößen, in den Bann schlagen und - im schlimmsten Falle - sogar töten. „Augen lügen nicht!“ Sie zeigen die Wahrheit, egal welche Maske wir aufsetzen.
Veronika reicht dem Herrn ihr Tuch. Der Herr wischt die Spuren der Folter und des Kreuzwegs ab und zeigt sich der liebenden Frau. Einmal gereinigt, entdeckt Veronika sein Antlitz in aller Unmittelbarkeit. Sie steht da, Auge in Auge mit dem Sohn Gottes, darf ihn erkennen. Als Dank für ihren Mut hinterlässt Jesus im Schweißtuch nicht den Schmutz der Welt, sondern das Bild seiner Seele.
Tuchreliquien, die aus der frühesten Zeit der Kirche stammen, offenbaren das Angesicht des Herrn. Die Verehrung, die diesen Reliquien gezeigt wurde, beweist, wie wichtig es den Gläubigen immer war, Gott nahe zu sein, den Gottmenschen zu kennen und ihm direkt zu begegnen.
Im Gegenüber mit Gott, da, wo wir sein Gesicht erkennen, leuchtet unser Antlitz auf. Da lösen wir uns aus der anonymen Masse, werden ganz Mensch und nehmen ein Gesicht an. Zu allen Zeiten waren und sind es immer noch die ‚Veronikas‘, Menschen mit Gesichtern, die allein in der Lage sind, den Mitmenschen wert zu schätzen.