4. Station: Jesus begegnet seiner weinenden Mutter

Der Virus vereinsamt uns. Er fordert Abstand und Maske, verhindert Feiern in Gemeinschaft. Im Extremfall isoliert er Kranke von ihren Lieben. Viele sterben alleine und ohne den Beistand der Kirche. Gnadenlos erzeugt der Virus tiefes Leid und schlägt er bleibende Wunden. Aber er offenbart auch unser Versagen!

Schon lange bevor der Virus ausbrach, haben wir in diesem Punkt schwer gesündigt. Telefon, Computer, Internet, Social Media drängten sich zwischen die Menschen. Sie können große Dienste leisten und die Arbeit erleichtern. Wir haben sie jedoch missbraucht, um Cyberfreundschaften zu entwickeln und zu pflegen, die Anzahl an Internetbekanntschaften zu vergrößern und den Mitmenschen mit Kopfhörern und Ohrstöpseln aus unserem Leben auszuschließen. In der Zwischenzeit sind virtuelle Freunde wichtiger als reelle und verschwenden zunehmend Zeit für diese Art Kommunikation. Wissenschaftler warnen vor einer Generation ‚sozialer Krüppel‘. Das Handy sollte ein Mittel werden, das die Menschen einander näherbringt. In Wirklichkeit entwickelte das Smartphone sich zum Flucht- und Suchtmittel aus der Realität.

Die Versexualisierung ist eine zweite Sünde unserer Zeit. Sexualität, gesehen als ein Wert in sich, degradiert den Menschen zum Objekt. Personen beanspruchen ein Recht auf körperliche Nähe, bevor sie sich wirklich kennenlernen und bereit sind, sich respektvoll und bleibend aufeinander einzulassen.

In der aktuellen Situation wird das Thema menschliche Kontakte plötzlich wieder in den Vordergrund gerückt.

Die Begegnung Jesu und Mariä auf dem Kreuzweg verdient unsere Aufmerksamkeit. Mutter und Sohn lebten dreißig Jahre in trauter Gemeinschaft. Sie tauschten ihre Gedanken aus, hörten zu, teilten einander ihre Gefühle mit und schenkten sich Vertrauen. Das Zuhören und Mitempfinden stand im Mittelpunkt ihres Daseins. Im direkten Kontakt lernten sie, was es für Menschen heißt, zu kommunizieren: die Mimik zu lesen, den Ton der Stimme zu erfühlen, auf den anderen aufmerksam zu sein, auf ihn einzugehen. Der Respekt füreinander wuchs und die gegenseitige Liebe intensivierte das Interesse am Gegenüber. Mutter und Sohn bleiben nicht nur leibliche Verwandte. Sie wurden „Seelenverwandte“. Bezeichnenderweise ist dieses Wort aus unserem Wortschatz verschwunden. Keine andere ‚Kommunikation‘ in der Geschichte der Menschheit war menschlicher oder beglückender.

Ihre Begegnung auf dem Kreuzweg steht also in einer langen Reihe von Kontakten. Diese waren die Vorbereitung für die Stunde der Prüfung. Ihre Beziehung ist stark und sie wird im Leid bestehen. Sie bedürfen keiner Umarmung. Ehrfürchtig und voll Respekt wahren sie den gebotenen Abstand. Sich zu sehen reicht aus. Sie verlangen lediglich danach, einander gegenwärtig zu sein und sich unmittelbar gegenüber zu stehen, gemeinsam die aktuelle Herausforderung zu meistern. Ein einziger Blick Jesu genügt, um sich seiner Mutter vollständig zu offenbaren und um gleichzeitig in ihrer Seele zu lesen. Die Gottesmutter ihrerseits schaut auf ihren Sohn, versteht und teilt sich mit. Ein kurzer Augenblick intensivsten Austausches! Er spendet Trost und vereint.