Nur die wahre Liebe wird im Reich des Egoismus und der Unreinheit triumphieren

Brief des Generaloberen an die Freunde und Wohltäter n. 91

WENN GOTT DIESE ALLUMFASSENHEIT DES BÖSEN,
DIESES NEUE HEIDNISCHE REICH, WIE NIE ZUVOR ZULÄSST,
DANN MIT SICHERHEIT MIT DEM ZIEL, DAS CHRISTLICHE
HELDENTUM IN DER GANZEN WELT ZU BELEBEN.

Liebe Gläubige, Freunde und Wohltäter,

In der Menschheitsgeschichte ist es ziemlich oft vorgekommen, dass die Welt unversehens den Eindruck hatte, als eine andere aufzuwachen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt im christlichen Altertum beispielsweise „erwachte die Welt mit Verblüffen und entdeckte, dass sie arianisch war“, um die berühmte Aussage des heiligen Hieronymus zu verwenden. Gleichermaßen erwachte im 16. Jahrhundert ein Drittel Europas im Protestantismus. In Wirklichkeit traten diese Erscheinungen nicht über Nacht auf, sondern wurden durch stufenweise eintretende Entwicklungen vorbereitet. Trotzdem hinterließen sie wirklich den Eindruck einer Überraschung, da die Zeitgenossen die Tragweite der einzelnen Vorgänge, die diese Katastrophen auslösten, nicht wirklich wahrgenommen haben. Sie waren sich der Folgen, welche diese Vorfälle mit sich brachten, nicht bewusst. Auf diese Weise erwachten ganze Völker als Arianer beziehungsweise Protestanten, und als sie aufwachten, war es bereits zu spät.

Leider befinden wir uns in einer vergleichbaren Lage. Wir beobachten Dinge, Äußerungen und Bestrebungen um uns herum, die uns empören, und dennoch laufen wir Gefahr, deren gesamte Tragweite nicht zu bemerken. Oftmals werden diese Dinge als einzelne Ereignisse wahrgenommen, die andere betreffen, uns aber nie berühren würden. Zwar nehmen wir sie zur Kenntnis, verabscheuen sie, doch in gewisser Weise beachten wir sie im täglichen Leben nicht. Dies führt dazu, dass unsere Augen nicht immer vollständig geöffnet sind, um den Einfluss und die Gefahr dieser Gegebenheiten auf uns selbst und vor allem auf unsere Kinder zu durchschauen. Es sei klar gesagt: Die Welt ist im Begriff, sich in ein allumfassendes Sodoma und Gomorrha zu verwandeln. Diesem können wir nicht entfliehen, indem wir an einen anderen Ort ziehen, denn diese Umwälzung ist weltumfassend. Es gilt, Ruhe zu bewahren, sich jedoch bereits jetzt mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf vorzubereiten, damit wir beim Erwachen nicht überrascht werden.

Das allumfassende Sodoma und Gomorrha

Es ist immer schwierig, den Unheilspropheten zu spielen, doch ist es in manchen Fällen nicht möglich, sich diesem zu entziehen. Eine teuflische Kultur setzt sich von Tag zu Tag mehr in der Welt fest. Nachdem die heutige Menschheit Gott durch den Glaubensabfall und den Atheismus abgelehnt hat, will sie sich unweigerlich an seine Stelle setzen. Das Ergebnis davon ist satanisch. Der Mensch beansprucht nunmehr zu bestimmen, was gut und böse ist. Er ist es, der vorgibt, ob er leben oder sterben will, dieser oder jene zu sein, das Leben zu gewähren oder es zu vernichten… Kurzum, alles zu entscheiden, was bisher Gott zu entscheiden hatte, und zwar auf allumfassende Weise.

Doch das Allerschlimmste von all dem ist der offenkundige Wille, die Unschuldigen in diese abscheulichen Grundsätze einzuführen. Hierbei richtet sich das Augenmerk besonders auf Kinder und Jugendliche, um sie von klein auf in diese neue Auffassung der Wirklichkeit einzuführen, sie zu verderben, sie Dinge zu lehren, die eigentlich nur Erwachsene wissen sollten, ja selbst Dinge, die auch Erwachsene in einer Gesellschaft, die noch menschlich und sittlich gesund ist, nicht wissen sollten. Moralisch gesprochen lässt sich ein ernsthafter Wille erkennen, die Unschuld dort zu zerstören, wo sie sich natürlicherweise befinden sollte. So weit sind wir bereits. Das Problem ist nicht nur die Sünde, welche die Welt überfällt und alles auf ihrem Weg infiziert, sondern die Tatsache, dass all dies gutgeheißen und durchgesetzt wird. Dies ist ein Zeichen dafür, dass Gott, der vom Menschen verlassen wurde, seinerseits den Menschen seinem Schicksal überlassen hat.

Die Folgen der Ablehnung Gottes

Im neuen Sodoma wurden der Glaube und die Liebe endgültig von der Lüge und dem Egoismus verdrängt.

Der heilige Paulus beschrieb das Endergebnis des Glaubensabfalls bereits ausführlich und mit unmissverständlichen Worten: „Obwohl sie [, die Menschen,] nämlich Gott kannten, haben sie Ihn doch nicht als Gott verehrt noch Ihm gedankt. Vielmehr wurden sie töricht in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert (…) Darum gab sie Gott durch die Gelüste ihres Herzens der Unlauterkeit preis, so dass ihre Leiber an ihnen geschändet wurden. Sie vertauschten den wahren Gott mit falschen Götzen und verehrten und beteten das Geschöpf an statt den Schöpfer (…) Deshalb gab sie Gott schändlichen Leidenschaften preis (…) Weil sie es verschmähten, Gott anzuerkennen, gab sie Gott ihrer verworfenen Gesinnung preis, so dass sie taten, was sich nicht geziemt. So sind sie voll jeglicher Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Unzucht, Habsucht, Bosheit, voll Neid, Mordlust, Streitsucht, Arglist und Tücke. Sie sind Ohrenbläser, Verleumder, Gotteshasser; Spötter, Verächter, Prahler; erfinderisch im Bösen, unbotmäßig gegen die Eltern, unverständig, treulos, lieblos, erbarmungslos. Sie kennen zwar die Satzung Gottes, dass des Todes schuldig ist, wer solches begeht; dennoch tun sie es, ja spenden noch denen Beifall, die es tun.“ (Röm. 1, 21 ff.)

Die Schwäche der Kirchenmänner

Angesichts dieser Tatsache befindet sich die aus dem Konzil hervorgegangene Kirche in einer Sackgasse. Seit dem Tag, an dem der Dialog an die Stelle der Predigt der Wahrheit getreten ist, ist dies unabwendbar geworden. Der Wille, sich der Welt anzupassen, sie so zu akzeptieren, wie sie ist, ohne sie in ihren Verirrungen zu verurteilen, ohne sich ihr entgegenzustellen, - dieser Wille trägt nun seine schlussendlichen Früchte. Ein beträchtlicher Anteil der Kirche tritt bereits offen dafür ein, die oben erwähnten Gräuel zu akzeptieren. Weitere Kirchenkreise scheinen nicht mehr zu wissen, mit welchem Argument man sich dagegen wehren kann. Kurzum, alles ist bereit für ein neues Sodoma und Gomorrha.

Die Notwendigkeit angemessener Heilmittel

Die Grundvoraussetzung einer jeden möglichen Lösung besteht zuallererst darin, die Augen zu öffnen und zu verstehen, dass wir alle von diesem neuen Paradigma betroffen sind. Da es sich in der vorherrschenden Kultur befindet, ist es folglich überall: in der Sprache, in der Mode, in der Kunst, im Theater, auf der Straße. Es erscheint in den Nachrichten, die wir ständig erhalten, denn es ist das Prisma unserer Zeit, durch das alles gefiltert und dargestellt wird. Wir müssen uns dessen stärker bewusst werden: Die Luft, die wir atmen, ist vergiftet, das Internet, mit dem wir zunehmend gezwungen sind zu leben und das wir konsumieren, ist verseucht und trägt die Pest selbst in die abgelegensten Flecken. All das betrifft uns zwangsläufig. Und wie gesagt sind es die Kinder und Jugendlichen, die diesem schrecklichen Gift am hilflosesten ausgeliefert sind, allen voran jene in unseren eigenen Familien.

Der christliche Heldenmut: seine zwei wesentlichen Merkmale

Nur – was sollen wir dann tun, nachdem wir die Augen geöffnet haben? Wenn Gott diese Allumfassenheit des Bösen, dieses neue heidnische Reich, wie nie zuvor zulässt, dann mit Sicherheit mit dem Ziel, das christliche Heldentum in der ganzen Welt zu beleben. Wir können nicht außerhalb dieses Weltreichs leben. Dennoch können wir in ihm leben, ohne von ihm zermalmt zu werden. Wir können darin nur in dem Maße überleben, in dem wir uns selbst „diskriminieren“, d. h. uns abseits halten.

Dieses Heldentum, das die Christen bereits in heidnischen Reichen bewiesen haben, hat zwei wesentliche Züge. Erstens beginnt, nährt und entwickelt es sich im Verborgenen. Es braucht die Zurückgezogenheit, um zu wachsen. Es braucht das Gebet, um in der Gottesliebe und im grundlegendsten Hass gegen die Sünde zu gedeihen. Dies lässt sich nicht an einem Tag erreichen. Die großen äußeren Taten, die Ausdruck dieses Heldentums sind, waren stets das Ergebnis einer verborgenen Beständigkeit und einer unerschütterlichen Beharrlichkeit über Jahre hinweg. Der Heldenmut des Kreuzes setzt die Verborgenheit der Krippe und des Hauses von Nazareth voraus. Die Beharrlichkeit bis ans Ende wird nur denen zuteil, die im täglichen Leben, in ihren gewöhnlichsten Handlungen, in der Lage waren, sich vor dem Bösen zu schützen und sich von der Sünde fernzuhalten, und zwar mit einem Heldenmut, den nur Gott – der Nieren und Herzen prüft – kennt und belohnt. Äußerliche Bekundungen und Handlungen ohne ein reines Herz, ohne eine echte innere Umkehr, drohen uns in Täuschung oder gar Heuchelei verfallen zu lassen. Abraham besaß dieses reine, auf Gott festgelegte Herz, das es ihm ermöglichte, sich von allem, was Sodoma darstellte, fernzuhalten. Lot, obwohl er selbst ein gerechter Mann war (2. Petr. 2, 7-8), entschied sich dennoch, nach Sodoma zu ziehen und dort zu bleiben: Diese Umgebung, trotz allem, gefiel ihm, und somit entgingen seine Kinder leider nicht den schlechten Einflüssen.

Der zweite Wesenszug dieses Heldentums, der sich ebenfalls im Laufe der Jahre zeigen muss, ist die völlige Selbsthingabe. Sie ist das untrügliche Zeichen der Liebe. Das Glaubensbekenntnis ist nur dann wirksam, wenn es von einer wahren Großherzigkeit in der Selbsthingabe an Gott begleitet wird, die uns dazu bewegt, alles, was Er liebt, so zu lieben, wie Er es liebt, und alles, was Er hasst, so zu hassen, wie Er es hasst. Ohne diese Liebe kann man diesen Hass nicht haben. Und ohne diesen Hass kann man einer Verführung nicht widerstehen, die immer feiner, tiefer und allumfassender wird, eine Verführung, der auch Lots Familie nicht völlig entkommen ist.

Credidimus caritati: drei bevorzugte Waffen

Lasst uns die Augen jetzt öffnen. Öffnen wir die Augen unserer Kinder, bevor wir verschlungen im neuen Sodoma erwachen. Schenken wir unseren Kindern in erster Linie das Lehrbeispiel unseres Lebens, unserer Liebe und unseres Hasses. Warten wir nicht ab, sie zu schützen. Halten wir alles aus unserem Hause fern, was zur Verbreitung des Weltgeistes beitragen könnte, ohne Zugeständnisse, mit einer sanften und gesunden Unnachgiebigkeit. Seien wir weder naiv noch schwach: Keine Familie und keine Person kann glauben, sie sei immun. Die Verderbnis ist bereits viel tiefer, als man denkt, und ihre Ausbreitung ist unaufhaltsam.

Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass dieser Kampf zutiefst übernatürlich ist. Man kann teuflischer List nicht mit rein natürlichen Mitteln begegnen. Diese übernatürlichen Mittel lassen sich auf drei Hauptmittel zurückführen, die es immer aufs Neue zu entdecken gilt.

Das erste ist die heilige Messe: Durch sie fährt unser Herr fort, den Teufel und die Sünde zu besiegen. Nie wird man dieses Mittel gemäß seinem wahren Wert hochzuschätzen wissen, und niemals kann man sich zu sehr darauf stützen. Das kostbare Blut, welches auf unseren Altären dargebracht wird, behält bis zum Ende der Zeiten die Kraft, die Reinheit und Jungfräulichkeit selbst inmitten des neuen Sodoma aufkeimen zu lassen. Die heilige Messe ist das Meisterwerk der Liebe unseres Herrn zu den Seelen, und sie nährt in ihnen dieselbe Liebe, die sie bis zur Selbsthingabe erstarken lässt.

Das zweite Mittel ist der heilige Rosenkranz. Dieses so gewöhnliche Mittel muss in unseren Familien besonders wiederentdeckt werden. In ihm soll immer mehr das Mittel gesehen werden, uns in die großen Geheimnisse des Lebens unseres Herrn und Unserer Lieben Frau zu versenken. Hierdurch werden wir, geführt von unserer Mutter, fähig, sie in ihrer Selbsthingabe an Gott, ihrem Opfergeist und ihrer Reinheit nachzuahmen. Traurigerweise findet man in manchen Fällen nicht mehr die nötige Zeit, um gemeinsam zu beten. Der Rosenkranz muss die erste aller täglichen Familienaktivitäten bleiben. Um ihn herum will der Tag gestaltet sein. Familien, die an dieser Regel festhalten, wird es an der Gnade der Beharrlichkeit der Kinder nicht fehlen.

Das dritte Mittel ist jenes, welches zur Erlangung der Beharrlichkeit sicherlich am meisten auf die gegenwärtige Lage zugeschnitten ist: Es handelt sich um das Unbefleckte Herz Mariens. In seiner Vorsehung wollte unser Herr uns eine Zufluchtsstätte inmitten von Sodoma und Gomorrha gewähren. Diese Zuflucht müssen wir aufsuchen. Das heißt, wir müssen zwischen unserem Herzen und dem der Jungfrau Maria eine solche Vertrautheit herstellen, dass wir das innere Leben der Jungfrau Maria kennen und bewundern, ihre Wünsche, ihre Freuden und Sorgen teilen können. Auch müssen wir vor allem ihren Willen teilen, vorbehaltlos am Werk der Erlösung mitzuwirken.

Was finden wir sodann in diesem Herzen, das wir sonst nirgendwo finden können? Dort finden wir vor allem diese unüberwindbare göttliche Liebe, welche die Seelen unbesiegbar macht. Hier verbirgt sich das Siegesgeheimnis, und genau hier müssen wir danach suchen. Wenn eine Seele wahrhaftig liebt, ist sie bereit, sich jeder Prüfung zu stellen. Jegliche berechtigte und verständliche Angst schwindet; alle Schwäche weicht; der ganze Heldenmut wird möglich. Denn alles, was wir in den vorangehenden Überlegungen angesprochen haben, läuft letztlich auf eine Frage der radikalen Liebe hinaus. Die wahre Liebe, jene Liebe, die Gott in unsere Herzen gießt, gewinnt immer die Oberhand. Wo Liebe herrscht, überwältigt sie. Wir sprechen hier von Liebe, die nicht Schwäche bedeutet, sondern Stärke. Sie ist die Waffe, der nichts widerstehen kann. Nur die Liebe jener bis zum Martyrium bereitwilligen Seelen wird im Reich des Egoismus und der Unreinheit triumphieren können. Das Vorbild und die Quelle dieser Liebe, die es in der Welt nicht mehr gibt, die aber die unsere sein muss, werden wir im Herzen der allerseligsten Jungfrau Maria finden. Credidimus Caritati.

Gott segne Sie!

Menzingen, am 3. September 2022,
dem Fest des heiligen Papst Pius X.

Don Davide Pagliarani, Generaloberer