Mai 2015 - Brief an Freunde und Wohltäter, Nr. 84

Zusammenfassung: In einem Vortrag vom 20. Januar 2015 erwägt Kardinal Maradiaga, dass die Barmherzigkeit den durch das 2. Vatikanische Konzil eingeführten Reformen einen neuen Geist verleihen soll, um die Kirche gegenüber der heutigen Welt zu öffnen. So für ihre Zwecke instrumentalisiert wird die Barmherzigkeit ganz von der Reue über Fehltritte abgetrennt; sie scheint nur noch ein wohlgesonnener Blick auf den Sünder und seine Sünde zu sein.

Im Hinblick auf das nächste Heilige Jahr muss man ernsthaft unterscheiden zwischen dieser verstümmelten Barmherzigkeit und der ganzen Barmherzigkeit, welche zur Bekehrung und zur Verabscheuung der Sünde einlädt. Unsere Gebete und Opfer sollen im Verlauf dieses Heiligen Jahres eine Antwort auf die Bitte des schmerzhaften und Unbefleckten Herzens Mariens in Fatima geben; im Jahre 2017 werden wir die Hundertjahrfeier dieser Erscheinungen feierlich begehen.

Liebe Freunde und Wohltäter,

man muss nicht weit suchen, um die Krisenlage, in welcher sich unsere heilige Mutter Kirche befindet, festzustellen. Dennoch lassen uns in letzter Zeit gewisse beunruhigende Anzeichen vermuten, dass wir in eine noch intensivere Phase der Unruhe und Verwirrung eintreten. Der Verlust der Einheit in der Kirche macht sich immer mehr bemerkbar, sowohl aufseiten des Glaubens und der Moral, als auch aufseiten der Liturgie und der Leitung. Es ist deshalb nicht gewagt zu behaupten, dass eine sehr schwierige Periode vor uns liegt. Wenn kein Wunder geschieht, ist zu befürchten, dass die Seelen noch mehr sich selbst überlassen sein werden und keinen – doch so wichtigen – Halt vonseiten der Hierarchie in ihrer Gesamtheit erwarten können.

Eine neue Barmherzigkeit im Dienste der konziliaren Reformen

Um diese Aussage zu unterstreichen, soll ein Beispiel – unter anderen – erwähnt werden. Kardinal Oscar Andres Rodriguez Maradiaga, Koordinator der Gruppe der Kardinäle, welcher Papst Franziskus die Überlegungen zur Reform der römischen Kurie anvertraut hat, hielt am 20. Januar 2015 einen Vortrag an der Universität Santa Clara in Kalifornien. Dieser Vortrag gibt einen Einblick, von welchen Zukunftsvisionen sich die nächsten Berater des Papstes leiten lassen. Als erste Idee ist festzuhalten, wie besagter Kardinal die Verwirklichung seiner Reformen – darunter ist die Gesamtheit aller Reformen seit dem 2. Vatikanischen Konzil zu verstehen – sieht: sie sollen nicht mehr rückgängig zu machen sein. Dieser Wille, nie mehr einen Schritt zurück zu gehen, findet sich übrigens auch an anderen Stellen seines Vortrags ausgedrückt.  

Dennoch anerkennt der honduranische Kardinal, dass bereits verwirklichte Reformen in Gefahr sind, da sie eine schwerwiegende Krise in der Kirche ausgelöst haben. Der Grund dafür liegt darin, dass jede Reform von einem Geist, der die Seele davon ist, inspiriert sein muss. Aber die konziliaren Reformen haben dieses Prinzip nicht beachtet. Im Gegenteil, so meint er, sie wurden verwirklicht und ließen den alten Geist, den Geist der Tradition, bestehen. Daraus resultiert, dass diese Reformen teilweise nicht verstanden und nicht von der erhofften Wirkung gekrönt wurden; das ging so weit, dass sie in der Kirche eine Art Schizophrenie hervorgerufen haben.

Kardinal Rodriguez Maradiaga stellt heraus, dass man trotzdem keinen Schritt rückwärts machen darf. Gemäß seinen Aussagen muss man vielmehr einen neuen Geist, der den Reformen entspricht,  einflößen, um die Neuerungen zu motivieren und dynamisieren. Dieser Geist ist die Barmherzigkeit. Und gerade dazu hat der Papst ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen…

Die wahre Barmherzigkeit in der Schule des Heiligsten Herzens Jesu

Worum handelt es sich genau? An sich ist Barmherzigkeit ein Wort, das jedem Katholiken teuer ist, da es der ergreifendste Ausdruck der Liebe Gottes uns gegenüber ist. In den vergangenen Jahrhunderten waren die Erscheinungen des heiligsten Herzens Jesu nichts anderes als eine noch stärkere Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes den Menschen gegenüber. Dasselbe lässt sich ebenfalls über die Verehrung des schmerzhaften und unbefleckten Herzens Mariens sagen. Die wahre Barmherzigkeit, welche diese erste überaus ergreifende Herabneigung Gottes zu dem Sünder und seinem Elend einschließt, setzt sich fort in einer Bewegung der Umkehr des Geschöpfes zu Gott hin: „Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe“ (Ez 33,11). Daher bestehen die Evangelien auf der Pflicht der Bekehrung, der Selbstverleugnung und der Busse. Unser Herr geht sogar so weit, dass er sagt: „Wenn ihr nicht Busse tut, werdet ihr alle umkommen“ (Lk 16,5). Dieser Aufruf zur Umkehr ist der Kern des Evangeliums, den wir sowohl beim hl. Johannes dem Täufer als auch beim hl. Petrus wiederfinden. Wenn die Sünder, von der Predigt gerührt, fragen, was sie tun sollen, so bekommen sie nur dieses Wort zu hören: „Bekehret euch und tut Busse.“ Die allerseligste Jungfrau wiederholte während ihren Erscheinungen in den letzten Jahrhunderten – sowohl in La Salette als auch in Lourdes oder Fatima: „Gebet und Busse.“

Die neuen Prediger einer neuen Barmherzigkeit bestehen aber so sehr auf dem ersten Schritt, den Gott gegenüber dem Menschen tut, der durch die Sünde, die Unkenntnis und das Elend gefallen ist, dass sie zu oft die zweite Bewegung, die vonseiten des Geschöpfes kommen muss, außer Acht lassen: die Reue, die Bekehrung und die Verwerfung der Sünde. Schließlich ist die neue Barmherzigkeit nichts anderes als ein wohlgefälliger Blick auf die Sünde. Gott liebt euch… in jedem Fall.

Die neue, von der Reue abgetrennte Barmherzigkeit

Die Beispiele der Barmherzigkeit, welche Kardinal Maradiaga gibt, lassen leider kaum einen Zweifel offen. Er räumt den Christen, welche die Bande der Ehe gebrochen und eine „neu zusammengesetzte“ Familie gegründet haben, einen vollständigen Platz im Leben der Kirche ein. Einfach so… Und er verkündet jenen, welche die Kirche verlassen haben, da sie sich im Stand der Sünde befinden, einen Himmel, der demjenigen der Heiligen gleichwertig ist. Offensichtlich wirft er den Amtsträgern vor, dass sie diesen armen Sündern gegenüber ihre Missbilligung äußerten… Das ist die neue Barmherzigkeit, die neue Spiritualität, die für immer die Reformen der Einrichtungen und Sitten der Kirche zementieren soll; die bereits seit dem Konzil verwirklichten als auch die ab dem jetzigen Zeitpunkt geplanten Neuerungen! Das ist äußerst schwerwiegend. Gleichzeitig lässt es uns aber besser verstehen, wieso wir uns dem sogenannten „Konzilsgeist“ so sehr widersetzen.  Im Namen dieses neuen Geistes wurden die Reformen nämlich eingeführt, ein Geist, der gewiss nicht traditionell ist. Wir sagen, dass dieser Geist alles auf dem Konzil verdorben hat, sogar die Teile, die man noch als katholisch betrachten könnte… Dieser Geist ist ein Sich-Anpassen an die Welt, ein Blick des Wohlgefallens auf ihre Sündenfälle und ihre Versuchungen, und zwar im Namen der Güte, der Barmherzigkeit und der Liebe. So sagt man zum Beispiel nicht mehr, dass die anderen Religionen falsch sind, obwohl es sich dabei um eine Aussage des Lehramtes aller Zeiten handelt. Man fasst die Gefahren der Welt nicht mehr ins Auge, und sogar der Teufel ist seit fünfzig Jahren aus dem kirchlichen Wortschatz fast ganz verschwunden. Dieser Geist erklärt die aktuellen Leiden unserer heiligen Mutter Kirche, deren Autorität trotz ihrer Öffnungen Richtung Welt abnimmt; täglich verliert sie immer mehr Mitglieder und Priester und muss mitansehen, wie sich ihr Einfluss auf die zeitgenössische Gesellschaft verringert. Irland, das früher so katholisch war und wo die „Ehe“ zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Personen kürzlich legalisiert wurde, ist ein trauriges Beispiel dafür.

Kann man die Barmherzigkeit verstümmeln oder, wie es ein Kardinal Maradiaga tut, sie von der notwendigen Busse abschneiden, mit dem erklärten Ziel, den konziliaren Reformen einen neuen Geist zu verleihen, der einen Bruch mit dem traditionellen Geist bedeutet? Bestimmt nicht! Ist der Kardinal in seinem Vortrag, den er drei Monate vor der Eröffnungsbulle des Heiligen Jahres gab, der Interpret der Gedanken des Papstes Franziskus? Es ist sehr schwierig, das zu wissen; so viele Botschaften, die seit zwei Jahren von Rom kommen, sind widersprüchlich; gewisse Kardinäle gestehen es im Geheimen ein und mehrere Vatikanisten sprechen sogar offen darüber.

Unterscheidung zwischen der verstümmelten und der ganzen Barmherzigkeit

Muss man folglich auf die Gnaden des Heiligen Jahres verzichten? Ganz im Gegenteil! Wenn die Schleusen der Gnade weit offen stehen, muss man sie in Überfülle empfangen! Ein Heiliges Jahr ist für alle Glieder der Kirche eine große Gnade. Wir wollen also von der wahren Barmherzigkeit leben, einer Barmherzigkeit, wie sie uns jede Seite des Evangeliums und die traditionelle Liturgie lehren. Ganz im Sinne der „vorgängigen Unterscheidung“[1 ] welche Erzbischof Lefebvre der Priesterbruderschaft St. Pius X. als Handlungsprinzip in diesen Zeiten der Verwirrung mit auf den Weg gegeben hat, wollen wir eine verstümmelte Barmherzigkeit verwerfen und in vollen Zügen aus der ganzen Barmherzigkeit leben.

Ein Wort, dem wir so oft begegnen und das sich offenkundig auf unseren Lippen befinden sollte ist das miserere. Dieses Wort weist darauf hin, dass wir von unserer Seite her unser Elend anerkennen und dann die Barmherzigkeit Gottes anrufen. Das Wissen um unser Elend lässt uns um Verzeihung flehen, erfüllt uns mit Reue und ist von der Absicht begleitet, nicht mehr zu sündigen. Die wahre Liebe, welche uns diese Regung einflößt, lässt uns die Notwendigkeit der Wiedergutmachung für unsere Sünden einsehen. Darum das sühnende und wiedergutmachende Opfer. Diese verschiedenen Regungen sind für eine Bekehrung unerlässlich, die vom Gott der Barmherzigkeit Verzeihung erlangt, der in aller Wahrheit nicht den Tod des Sünders will, sondern dass er sich bekehre und lebe. Der Anspruch auf die ewige Glückseligkeit ist bei jenen, die nicht mit ihren Sündengewohnheiten brechen wollen, die weder ernsthaft die Gefahren zur Sünde meiden noch den Vorsatz fassen, nicht mehr zu sündigen, eine vollständige Illusion.

Es wäre eine sinnlose Botschaft hinsichtlich des Himmels und eine teuflische Falle, welche die Welt in ihrem Wahnsinn und in ihrer immer offener werdenden Rebellion gegen Gott beruhigt, wenn man über eine Barmherzigkeit ohne notwendige Bekehrung der armen Sünder predigt. Wohingegen der Himmel eindeutig ist: „Gott lässt seiner nicht spotten“ (Gal. 6,7). Das Leben der Menschen in der Welt fordert den Zorn Gottes auf allen Seiten heraus. Das Hinmorden der unschuldigen Kinder zu Millionen im Mutterleib, die Legalisierung widernatürlicher Verbindungen und die Euthanasie sind Verbrechen, die zum Himmel schreien, ohne von allen anderen Arten von Ungerechtigkeit zu sprechen…

Die Barmherzigkeit in der Schule des schmerzhaften und Unbefleckten Herzens Mariens

Wir wollen diesen Aufruf zur Barmherzigkeit ernst nehmen – aber wie die Bewohner von Ninive! Wir wollen den verlorenen Schafen nachgehen, für die Bekehrung der Seelen beten und alle Werke der Barmherzigkeit, die in unserer Macht liegen, vollbringen, seien es die leiblichen oder noch mehr die geistigen, denn an diesen mangelt es vor allem.

Wenn Unsere Liebe Frau vor mehr als hundert Jahren sagen konnte, dass sie alle Mühe habe, den rächenden Arm ihres Sohnes zurückzuhalten… was würde sie heute sagen?

Wir, liebe Gläubige, sollen dieses Heilige Jahr nutzen, um den Gott der Barmherzigkeit um eine immer tiefer gehende Bekehrung zur Heiligkeit zu bitten, um die Gnaden und die Vergebung von seiner unendlichen Barmherzigkeit zu erflehen. Wir bereiten die Hundertjahrfeier der Erscheinungen Unserer Lieben Frau von Fatima vor, indem wir mit all unseren Kräften die Andacht zu ihrem schmerzhaften und Unbefleckten Herzen, wie sie es forderte, praktizieren und verbreiten. Wir werden immer noch und immer wieder inständig darum bitten, dass ihren Forderungen, besonders der Weihe Russlands, endlich gebührend Gehör geschenkt werde. Es gibt keinen Widerspruch zwischen diesen an Maria gerichteten Gedanken und dem Heiligen Jahr der Barmherzigkeit. Im Gegenteil! Wir wollen nicht trennen, was Gott vereint sehen will, die beiden Herzen Jesu und Mariens, wie es unser Herr Schwester Luzia in Fatima erklärte. Jeder Distrikt der Bruderschaft wird Ihnen mitteilen, welche besonderen Werke zu praktizieren sind, um in den vollen Genuss aller Gnaden zu kommen, welche die göttliche Barmherzigkeit während dieses Heiligen Jahres uns gewähren will.

So werden wir auf beste Weise unsere Mitarbeit mit dem barmherzigen Willen Gottes, alle Menschen guten Willens zu retten, beitragen.

Unser Herr segne Sie für Ihre Großherzigkeit und gewähre Ihnen an diesem Pfingsttag seine überreichen Gnaden des Glaubens und der Liebe.

+Bernard Fellay

am Pfingstsonntag, 24. Mai 2015

  • 1 „Im Praktischen muss sich unsere Haltung auf eine vorgängige, durch diesen ausserordentlichen Umstand eines für den Liberalismus gewonnenen Papstes notwendig gewordene Unterscheidung gründen. Diese Unterscheidung lautet so: Wenn der Papst etwas sagt, was unserem Glauben zuwiderläuft, oder wenn er zu etwas ermutigt oder etwas tun lässt, was unserem Glauben schadet, dann können wir ihm nicht folgen! Dies aus dem fundamentalen Grund, dass die Kirche, der Papst, die Hierarchie im Dienst des Glaubens stehen. Nicht sie sind es, die den Glauben machen; sie müssen ihm dienen. Der Glaube wird nicht gemacht, er ist unveränderlich, er wird übermittelt.“ Erzbischof Marcel Lefebvre, Sie haben ihn entthront, Stuttgart, 1988, S. 230.